Gewinnerin Reportagepreis 2015


Für immer.

 

Frank Wiebus war fast sein halbes Leben auf Heroin, der Münchner Hauptbahnhof war sein Zuhause. Seit vier Jahren ist er clean, kein Methadon, kein Alkohol – aber wer einmal süchtig war, bleibt es sein Leben lang. Unterwegs mit einem, für den jeder Tag immer noch ein Kampf ist.

Von Friederike Zoe Grasshoff

 

Jetzt nicht stehenbleiben, nicht auf dieser Straße. Die Hände in den Hosentaschen, hetzt er mit großen Schritten durch die Abendsonne. Autos hupen, Mädchen lachen. Er schweigt. Mit jeder Erinnerung werden seine Schritte schneller. Er hasst dieses Viertel, diese Häuser, diese leeren Gesichter. Er kennt hier in der Landwehrstraße jeden Pflasterstein und jeden Hinterhof, er ist in dieser Straße eingeschlafen und aufgewacht, von einer Pension in die andere getorkelt, von Toilette zu Toilette. Umkehren will er nicht; nicht jetzt, er war fast vier Jahre nicht mehr hier. „Ich zieh das durch“, sagt er und biegt ab. Im Hinterhof stehen alte Bekannte vor einem grauen Gebäude, „Drogennotdienst“ steht auf dem Schild. Die Männer sehen ihn nicht, sie trinken Dosenbier und schweigen.

 

„Ich muss hier weg“, er hetzt weiter, auf die Schillerstraße: Döner- Läden, Gold-An- und Verkauf, Friseure, Sex- Shops, Taxis. Bis zum Bahnhof ist es jetzt nicht mehr weit, nur 50 Meter trennen Frank Wiebus von dieser grauen Halle, die früher sein Zuhause war. „Scheiße, das ist die asozialste Gegend von München.“ Er müsste jetzt nur über die Ampel, die Tramgleise überqueren, vorbei am Blumenladen, die Rolltreppe runter, rein ins Zwischengeschoss – und er wäre wieder drin. Auf der Szene, so nennen sie das hier. Ein Blick würde reichen, um die Dealer zu erkennen, ein unauffälliger Handschlag, um wieder diese Wärme zu spüren. Er ist jetzt fast da, er kann den Bahnhof sehen, wieder werden seine Schritte schneller. Die Ampel ist grün, Wiebus bleibt stehen. „Dieser abgefuckte Bahnhof war mein Zuhause. 24 Stunden am Tag habe ich das gehasst.“

 

Wiebus war 16 Jahre heroinabhängig, sechs Jahre hat er am Münchner Hauptbahnhof gelebt. Leben, das hieß damals: dealen, Vene suchen, drücken. Es waren die Neunziger, und das Zwischengeschoss war sein Zuhause. Heute umgeht er diesen Treffpunkt der Gestrandeten, nie wieder will er den Klotz von innen sehen. Seit vier Jahren ist Wiebus clean: kein Methadon, kein Alkohol, drei Zigaretten am Tag. Er hat das geschafft, was nur wenigen Langzeit-Abhängigen gelingt: nüchtern bleiben. Viele Ex-Junkies übertünchen das Verlangen mit Substitutionsmitteln, andere leben in dem ewigen Rhythmus von Entzug- Rückfall-Entzug. Einmal drauf, immer drauf. In den USA ist Heroin zur billigen Alltagsdroge geworden, auf deren Allgegenwärtigkeit vor fast einem Jahr der Tod des Schauspielers Philip Seymour Hoffman aufmerksam machte. In Deutschland hingegen stieg in den vergangenen Jahren nur die Zahl der Substituierten. Der eigentliche Heroin-Konsum geht dem Drogen- und Suchtbericht der Bundesregierung zufolge seit Jahren zurück. Wurden im Jahr 2002 noch mehr als 6000 erstauffällige Konsumenten registriert, waren es zehn Jahre später circa 2000. Heute gilt Heroin als Versager-Droge, es passt nicht in diese schnelle Zeit. Wer einmal süchtig war, bleibt es sein Leben lang, das weiß auch Frank Wiebus. Und: In München clean bleiben, das ist nicht einfach.

 

Während des Oktoberfests ist die Stadt voll Gesang und Kotze; ist diese Orgie überstanden, öffnen bald schon wieder die Biergärten. Dieser kollektive Suff, der Zwang, Spaß zu haben – Wiebus mag das nicht. Wenn er in der U-Bahn zwischen Dirndl-Touristen und Bayern-Fans sitzt, atmet er flach, kriegt Panik. Wenn seine Freunde abends am Gärtnerplatz unterwegs sind, trinkt er zwei Cola und geht nach Hause. Es war genug Rausch in seinem Leben, 16 Jahre lang diktierte der Stoff seine Biografie: Bahnhof, Gefängnis, Entzug, Bahnhof; ein ewiger Kampf gegen sich selbst. Heute, mit 39, hat er wieder eine Wohnung mit Bad und Bett, geht zum Yoga, hat Kontakt zu seiner Familie. Er hält sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser, das Geld ist stets knapp. Clean hin oder her: Heroin bleibt sein Lebensthema. Drehte er früher seine Runden am Bahnhof, dreht er heute Runden um den Bahnhof. Dachte er früher nur an den nächsten Schuss, denkt er heute an die Meetings der Selbsthilfegruppe Narcotics Anonymous (NA). Weil das alles so bleiben soll, weil er seinen Takt nicht verlieren will, behält er seinen richtigen Namen für sich.

 

Dass er fast die Hälfte seines Lebens Heroin geraucht, geschnupft, gespritzt hat, das sieht man nur an seinen Händen: Sie sind rot und geschwollen. Ansonsten sieht Frank Wiebus aus, wie Männer um die 40 oft aussehen: Augenringe, Glatze, dünne Beine. Wie alles anfing? So genau weiß Wiebus das auch nicht. „Ich hatte keine Träume, mir war langweilig.“ Aber er weiß, wieso er damit aufgehört hat: „Es ist der Teufel. „Kaum hat er die Worte ausgesprochen, laut wie immer, blickt er sich um, wie umzingelt. Er sitzt in einem Café in der Innenstadt und will nicht, dass die Damen hinter den Prosecco-Gläsern seine Geschichte hören. Seine Mutter ist 14, als sie ihn zur Welt bringt, kurz nach der Geburt trennen sich die Eltern, sein Vater geht in die USA, der Junge ist fast immer bei den Großeltern. Er wächst in einer kleinen Stadt in Südeuropa auf. 1987   kommt er mit seiner Mutter und seinem Bruder nach München, die Familie ist pleite. Er ist 13 Jahre alt. „ Ich hatte meine Freunde in einem anderen Land, war gezwungen, eine neue Sprache zu lernen – und das wollte ich nicht.“

 

Von Anfang an ist München für Wiebus eine kalte Stadt, von Anfang an verweigert er sich dieser Realität. Erste Station: Ramersdorf. Lange bleibt die Familie nicht, der Stiefvater ohrfeigt die Mutter. Nur einmal, aber das reicht. Wiebus, seine Mutter und sein Bruder ziehen in ein Frauenhaus. Er geht zur Schule, nachmittags trifft er seine Freunde, sie hören Black Sabbath, spielen Schlagzeug und Gitarre. Alles beginnt ziemlich klassisch, mit Joints im Park, Wiebus ist 17. Auf LSD lacht er die Nächte durch, die Leuchtanzeige in der U-Bahn verschwimmt vor seinen Augen. In der Alabama-Halle feiert er auf Techno-Partys, schluckt Pillen, zieht Kokain. Und tanzt, tanzt, tanzt. Es muss 1992 gewesen sein, auch das weiß er nicht mehr so genau. Wiebus sitzt in einem Auto auf der Landwehrstraße. Seine Kumpels beugen die Köpfe über Alufolie, das braune Pulver verdampft. Dann kotzen sie aus dem Fenster, sinken in die Sitze, schweigen, dämmern vor sich hin, eingehüllt in Glück so stark wie Hunderte Orgasmen zugleich. Glück, das schnell vergeht. „In dieser Zeit haben viele angefangen, Heroin zu nehmen, ich hab nur zugeschaut und fand’s widerlich“, erinnert sich Wiebus. Drei Monate lang sieht er seinem besten Freund dabei zu, wie er sich nun täglich über die Folie beugt, den Rauch mit einem Röhrchen inhaliert, in den Mülleimer kotzt und in sich zusammensinkt. „Eines Tages sagte ich zu ihm: ,Ey Mann, ich will das auch probieren.‘“ Jetzt wird seine tiefe Stimme noch tiefer, er reißt die braunen Augen auf, als habe er sich gerade einen Schuss gesetzt. „Ich hab’s sofort gewusst: Das ist meine Droge. Ich hab’s genommen und ich habe die Euphorie gespürt, die Wärme, die Geborgenheit.“ Er lacht. „Das war mein Fehler, dann kam die Katastrophe.“ Als er ein paar Monate später mit einer Spritze im Arm aufwacht, weiß er, dass er ein Problem hat. „Vorher wusste ich nicht, was auf mich zukommt, ich wusste nicht, was es heißt, süchtig zu sein. Keiner hat mich aufgeklärt.

 

Zuerst wird alles einfacher, klarer. Er hat jetzt einen 24-Stunden-Job: aufstehen, zwei Jägermeister, Stoff kaufen, fünf Gramm in Folie abpacken, die Kügelchen im Mund verstecken, zum Bahnhof, zwischendurch ein Milchreis, Runden drehen, drei Gramm verkaufen, Polizeikontrollen, einen Schlafplatz suchen, endlich drücken. So geht das 16 Jahre lang, mal arbeitet er als Kellner im Hofbräuhaus oder kontrolliert Mikrochips bei Siemens, mal nicht. Mal hat er eine Wohnung, mal nicht. Frauen kommen, Frauen gehen. Ist auch egal. „Das Heroin war meine Frau.“ Was er nicht wegdrücken kann, das ist der Gedanke ans Aufhören. Immer wieder sucht er Hilfe bei Beratungsstellen, macht Therapien, zieht weg aus München, nimmt den Ersatzstoff Subutex. Irgendwann steht er dann doch wieder am Hauptbahnhof. Die Hälfte seines Lebens hat er weggespritzt, eingepackt in die täuschend echte Wärme des Heroins. „Ich habe erst mit Mitte 30 angefangen zu leben, erst da bin ich aufgewacht“.

 

Ein paar Tage später, Frank Wiebus sitzt auf einer Bank im Münchner Westend vor dem Selbsthilfezentrum, seine E-Zigarette leuchtet blau auf. Er wird heute ein NA-Meeting leiten, das ist seine neue Familie. Eine Familie ohne Namen und Adressen. Ohne NA, da ist er sich sicher, wäre er längst tot. So wie fast alle seine Bahnhofsbekanntschaften und Jugendfreunde. „NA hat mich gerettet“, das ist sein Mantra. Heute ist er stiller als sonst. Dafür redet ein Bekannter, ein Mann mit Kindergesicht und Schmollmund, er sieht aus wie ein sehr alter Junge. Seine Bilanz: drei Monate clean. Er redet darüber, wie er sich jeden Morgen ein Abendprogramm überlegt, um ohne Drogen ins Bett zu gehen. Darüber, wie der Gedanke ans Spritzen automatisch seinen Kopf besetzt. Auch er hat wieder eine Arbeit, bald bekommt er den Führerschein zurück. „Immer, wenn irgendwas klappt, kommt dieser Reflex, mich mit Drogen zu belohnen.“ „Kauf dir lieber eine Jeans“, sagt Wiebus. „Darf ich mich zu euch setzen?“, lallt es von der Seite. Die Frau ist Ende zwanzig, sehr dünn und sehr drauf. Die Männer nicken. „Störe ich euch auch wirklich nicht?“ Dann setzt sie sich, kramt in ihrer Handtasche. Ein pinkes Sprühdeo knallt auf den Asphalt, ein Ledergürtel und Zigarettenfilter fallen hinterher. Sie lässt das Zeug auf dem Boden liegen, zündet sich eine Zigarette an, brennt ein Loch in ihren Schal. So bleibt sie ein paar Minuten sitzen, die Männer schweigen. Als sie sich verabschiedet, formt ihr Mund ein Lächeln, die Augen bleiben starr. „Das arme Mädchen“, sagt Wiebus.

 

Dem alten Frank, dieser kaputten Version seiner selbst, begegnet er überall. Er ist auf dem Spielplatz am Sendlinger Tor, am Ostbahnhof, vor der Substitutionspraxis im herausgeputzten Schwabing, auf der Toilette der U-Bahn-Station Fraunhofer Straße. So sehr die Stadt auch glänzt: In München leben schätzungsweise 5000 Opiatabhängige. Die Szene ist nicht so offensichtlich wie in Berlin oder Frankfurt, doch Frank Wiebus weiß: Sie sind überall. Wenn er als NA-Beauftragter Selbsthilfegruppen besucht, „um die Botschaft weiterzugeben“, beschimpfen ihn Männer auf Methadon als „Sektenmitglied“. Frauen schlafen mit offenem Mund ein, während er erzählt, „dass man es schaffen kann“. Zu dritt sitzen sie jetzt im Meeting, auf den neongrünen Beistelltischen steht Fertigkuchen und Filterkaffee. Sie warten noch ein paar Minuten, doch es kommt niemand mehr. „Hallo, ich bin süchtig“, sagt einer. Er ist seit neun Jahren clean, ein Buddha in Bushido-Klamotten. Er faltet die Hände und erzählt, dass gestern eine alte Freundin von ihm gestorben sei. Und er gleich daran dachte, etwas zu „konsumieren“. „Oans, zwoa, gsuffa.“ Der Mann mit dem Schmollmund verschränkt die Arme. In ein paar Wochen wird er nach Ibiza fliegen, All-inclusive. „Da wird doch gefeiert“, sagt er; Angst vor einem Rückfall hat hier jeder. „Auch auf Ibiza gibt es Meetings“, sagt der Buddha. Sie lachen. Ein paar Monate später wird der alte Junge wieder am Bahnhof stehen, mit toten Augen und Dosenbier in der Hand.

 

„Ich bin Frank und ich bin süchtig“, sagt Wiebus leise und schnell wie ein Schüler, der ein Gedicht aufsagen muss. Was ihn beschäftigt? Die Angst vor der Arbeitslosigkeit, die Angst davor, seinen Takt zu verlieren. „Ich werde schon was finden“, sagt er. Die anderen nicken. „Es ist ein Wunder, dass ich noch lebe“, sagt er. Die anderen nicken. „Aber früher haben alle Wege zum Bahnhof geführt – und das ist jetzt besser.“ An diesem Nachmittag, sonnig und kalt zugleich, hat er sich doch an den Bahnhof gewagt, er wollte das alles noch einmal sehen. Sein altes Leben aus 50 Metern Abstand. Mittlerweile leuchtet die Ampel vor der grauen Halle rot. Wiebus bleibt ein paar Minuten stehen. „Scheiß Bahnhof“, sagt er immer wieder. Ein Blick auf die graue Halle, dann dreht er sich um, seine Schritte werden langsamer, „das war brenzlig, weg hier.“ Am Marienplatz angekommen, bleibt er wieder stehen: „Ich habe nicht die Kraft, rückwärts zu gehen. Ich habe jetzt ein ruhiges Leben, das gebe ich nicht auf“, sein Kopf deutet Richtung Bahnhof. Die Glastüren der grauen Halle stehen immer offen, 24 Stunden am Tag.

Friederike Grasshoff, freie Autorin