Gewinnerin Reportagepreis 2011

Die „Charlotte“ überwindet die Havel bei Ketzin. Eine der letzten Fähren in Deutschland tut - fast immer - zuverlässig seit 1991 ihren Dienst. Und mit ihr  drei Fährmänner, die letzten ihres Schlages. 

 

Zwischen den Ufern

Von Eva-Maria Träger

Die Schicht beginnt mit einem Schrecken. „Das sieht nicht gut aus“, murmelt Ralf Beinbrecht und springt aus seinem Kombi. „Einfach stehen geblieben ist sie“, sagt Uwe König von der Frühschicht und deutet auf das eiserne Gefährt auf dem Fluss. „Kein Öl“, brummt Mechaniker Jens Lange und klopft an Bord auf den Motor. Die Mienen sind betreten, die Ufer getrennt.

Es ist das erste Mal in diesem Jahr, dass „Charlotte“ Scherereien macht. Sonst überwindet die Fähre zuverlässig die Havel bei Ketzin (Havelland), rattert wieder und wieder die knapp 180 Meter über das Wasser. Seit 1991 ist sie fast täglich im Einsatz, es sei denn, das Eis ist zu dick. Reparaturen sind da verzeihlich. Dienstälter und noch weniger störanfällig ist nur Fährmann Beinbrecht, er wechselt sich im Schichtdienst mit zwei Kollegen ab. „Am 16. August 1989 habe ich angefangen“, sagt der 59-Jährige. „Seitdem hatte ich nur zwei Fehltage.“

Sie sind ein vertrautes Gespann, der drahtige Mann in der Latzhose und der schmucklose Schwimmkörper. Die Jahre haben sie den Fluss kennen lernen lassen, seine Launen, seine Kraft, sein Licht. Dreieinhalb Minuten brauchen sie, um den Graben zu queren, etwa 30 Mal pro Schicht verbinden sie die Ufer. Voll ist die Ladefläche mit fünf Autos „oder zwölf Trabanten“, sagt Beinbrecht. Die Fahrkarte fürs Pferd kostet 1,50 Euro. Was immer die Menschen auf den Straßen vorwärts bringt, zwischen den Ufern bleibt ihnen keine Wahl: Ohne Fähre geht hier seit Jahrhunderten nichts. Auch in Zeiten, wo sonst alles jederzeit verfügbar ist.

„Fährt die heute etwa nicht?“, fragen zwei Rentnerinnen aus Berlin, auf Radtour übers Land. Sie stöhnen angesichts des 20 Kilometer-Umwegs, der sie erwartet, sollte Mechaniker Langes Ersatzteil nicht passen und Charlottes Motor stumm bleiben. Beinbrecht versucht, Optimismus zu verbreiten. „Gehen Sie erst mal einen Kaffee trinken“, sagt er und winkt sie ins Rasthaus nebenan.

Er sagt „Kaffe“ mit einem stumpfen Ö am Ende, es klingt wie Händespucken und Hauruck, nicht nach Teelöffelklingeln und Konfekt. „Ohne Kaffe geht gar nichts.“ Beinbrecht trinkt ihn mit viel Milch und wenig Zucker, das ist sein Luxus, und wenn der Becher leer ist, spült er ihn aus in dem Wasser, das neben der Fähre ans Ufer klatscht. Er trinkt sonst nichts während der sieben Stunden Schicht, nur im Sommer ein paar Schluck Sprudel. Es ist eine Menge Kaffeesatz die Havel hinuntergeflossen, seit Beinbrecht Dienst tut.

An Bord braucht er sonst nur Zigaretten. Weil das Rauchen in dem Führerhäuschen verboten ist, hält er in kühlen Monaten die Hand nach draußen in die Zugluft. „Den Kunden zuliebe“ erfrischt er den Atem mit Bonbons, die er manchmal, blau und rund gelutscht wie Bachkiesel, für eine Zigarettenlänge auf der schmalen Holzleiste über dem Steuerpult ablegt. Die Kunden geben den Rhythmus vor. Auf den Fahrten hört Beinbrecht ihnen zu, wie er dem murmelnden Wasser zuhört, wenn er am Ufer wartet, das Fernglas vor dem verbrannten Gesicht. Lange währt die Ruhe nie.

Am anderen Ufer läutet es. Autofahrer schlagen die dort aufgestellte Glocke an, trotz des Schildes „Fähre gesperrt“. Das Wasser hat sie jäh gestoppt, das Navigationssystem eine Brücke prophezeit. Sie wollen weiter, und zwar plötzlich. Fährmann, hol über! Beinbrecht kann nicht. „Schöner Klang“, sagt er und meint die Glocke, die ihn durchdringend zur Pflicht ruft. „Wenn es windstill ist, höre ich die bis ins Schlafzimmer.“ Er wohnt nahe dem Kirchturm, im Ortskern, seit 1974. „Ich bin Urketziner“, sagt er stolz, „kein Rucksackketziner.“ Herumziehen ist nichts für ihn. Das An und Ab der Fähre ist genug Bewegung. Steht sie still, gerät auch er aus dem Takt.

So durchdringend Charlotte quietscht, wenn sie an die Poller vor den Ufern stößt, so laut sie mit der Kette rasselt, die sie ans Flussbett fesselt, so bemüht ist ihr Steuermann um Harmonie. Grob wird er nur, wenn einer nicht zahlen will. Den lässt er am Ufer zurück, ohne Obolus keine Überfahrt, egal an welches Ufer. Wer zahlt, begibt sich vertrauensvoll in Beinbrechts Obhut und so mancher verrät ihm zwischen den Ufern, was ihn sorgt. Der Fährmann selbst verbirgt, wenn es ihm schlecht geht, er bleibt einsam trotz Gesellschaft. „Da können die Kunden doch nichts dafür“, sagt er. Ungestört sollen sie sein. Wenigstens für den Moment.

So sehr sie an Land über die Straßen brausen mögen, durchs Leben hasten, in den dreieinhalb Minuten an Bord, auf 27 Metern Länge und sieben Metern Breite, bleibt ihnen nichts, als Wind, Wellen, dem Motortuckern zu lauschen, die Wasseroberfläche zu beobachten und die Reiher im Schilf. Die Fähre transportiert sie von einem Ort zum anderen und zwingt sie doch zum Stillstand. „Die Charlotte“, sagt Beinbrecht, „ist schon mehrmals um die Welt gefahren – von den Kilometern her.“ Er verreist jeden Tag mit ihr, zieht sich an ihrer Kette entlang um die Welt, ohne sich je weiter als 180 Meter vom Ufer zu entfernen.

Das knarzende Funkgerät, das ihm Gesellschaft leistet, verbindet ihn mit den wenigen Menschen, die ihm dabei in die Quere kommen können: die Steuermänner der Lastkähne, die so ankündigen, wann sie ihre Ladung Splitt, Kies, Glas, Düngemittel an der Fähre vorbei schiffen wollen. Jürgen Starnitzke zählte früher zu diesen verzerrten Stimmen ohne Körper. Heute nutzt der Rentner die unfreiwillige Fährenpause, um sich Beinbrecht endlich einmal persönlich vorzustellen. „Das gehört sich so unter Schiffern“, sagt er, wenn man mal an Land ist. Starnitzke trägt eine Seemannsmütze auf dem Kopf und den Umriss einer nackten Frau auf dem Arm, den er wie Beinbrecht zum Gruß hochreißt, als ein Schiff vorbei fährt. Das gehört sich so, zwischen den Ufern.

Die Passagiere, für die das Übersetzen zum Arbeitsweg gehört, pflegen eigene Rituale. „Manche wollen reden“, sagt der Fährmann, „andere eben nicht.“ Ganz einfach. Die Altenpflegerin hört Autoradio. Der Mann von der Deponie raucht. Der weißbärtige Hertha-Fan will über Fußball diskutieren. Es geht um Elstern, Tomaten, polnische Gastarbeiter, den Bootsbrand beim Dorffest im Nachbarort, die Pappelpflanzungen vom CO2-Speicherer Vattenfall vor dem kleinen Städtchen mit etwas mehr als 6000 Einwohnern. Langweilig ist es Beinbrecht nie. „Jede Fahrt ist anders“, sagt er, „jeder Tag ist schön. Man muss nur ein Auge dafür haben.“ Die Welt zwischen zwei Ufern.

Die drei Männer, die von der Bank auf der Wiese einige Meter weiter das Treiben beobachten, wünschen sich eine Brücke. Beinbrecht will keine. „Die Fähre ist so laut“, sagt ein Mann, „es kommen immer so viele Berliner“, sagt ein anderer. Sie sind gekommen, um die Schiffe auf der Havel zu beobachten, sagen sie, die Fähre interessiert sie nicht – als wäre eine Brücke spannender. „Die haben schon früher immer die Schiffe beobachtet“, sagt Beinbrecht, „und jeder wusste, warum.“ Berufliches Interesse.

Die Augen des Fährmanns sehen auch alles, was im Ort passiert. „Aber was auf der Fähre gesagt wird, bleibt auch da“, sagt er. Zwischen den Ufern. Er weiß, wer Schwarz trägt, weil eine Beerdigung ansteht, wer mit Kuchen zum Geburtstag fährt. Er selbst verschwindet hinter den fremden Geschichten. In dem Häuschen sieben Stufen über der Ladefläche behält er den Überblick, wird aber selbst nicht gesehen. Ein Fährmann im Leben der anderen.

Was Beinbrecht für ein Mensch ist? „Ein Spinner“, sagt Mechaniker Lange, der mit dem Ersatzteil zurückgekehrt ist, und grinst belustigt in Charlottes Motor. „Das sehen Sie doch selbst“, sagt Fährmann König und zuckt ratlos mit den Schultern. „Wir sehen uns nur zum Schichtwechsel.“ Vergangenes Jahr hätte Beinbrecht sein 20. Dienstjubiläum feiern können. Nur hat es niemand bemerkt, sagt er, auch nicht der Bürgermeister. „Wenn ich weg bin, wird es kaum auffallen.“ Da irrt er sich wohl.

In vier Jahren will er aufhören, nur noch fahren, wenn Not am Mann ist. Reisen wie andere Rentner plant er nicht. „Wenn ich meinen Kirchturm nicht mehr sehe, kehre ich um“, sagt er und lacht und dann ernsthaft: „Nach drei Tagen bekomme ich Heimweh.“ Dann muss er zurück ans Wasser, wo ihm alles vertraut ist und doch jeder Tag anders.

„Da geht noch was“, tönt das Radio aus dem Kleinbus des Mechanikers. Der Moderator spricht vom Fußball. Deutschland spielt an diesem Tag gegen Serbien. „Das sieht gut aus“, sagt Beinbrecht. Er spricht von der Fähre. Die WM geht ihm „auf den Wecker“, ihn interessiert nur die Bundesliga. Gladbach. „Die mussten immer kämpfen“, sagt er, ohne Millionen hinter sich, ohne eigenes Stadion.

Die Deutschen verlieren ihren Kampf an diesem Tag. Die Charlotte aber legt wieder ab und an und ab und an.

Zwischen den Ufern der Havel, auf dem Deck einer Fähre, fand Eva-Maria Träger von der "Märkischen Allgemeinen" ihre Reportagengeschichte.