Gewinnerin Reportagepreis 2011
Wer in diesem Beruf bestehen will, darf keine Gefühle zulassen. Rechtsmediziner Wolfgang Keil erlebt täglich die Schattenseiten des Lebens und des Todes. Mit Krimiserien wie CSI hat sein Alltag wenig Ähnlichkeit.
Der Duft des Todes
Von Nicole Koller
Seine Kopfhaut hängt herab, vom Schädel abgezogen. Auf seinem Skalp wachsen hellbraune Haare, drei Zentimeter lang. Sein Kopf biegt sich nach hinten. Eine bizarre Verrenkung. Markus T. fühlt es nicht. Sein Leichnam ist drei Tage alt. Im Keller der Münchner Rechtsmedizin lässt er sich ein letztes Mal untersuchen. Narben ziehen sich über seine bleiche Haut und rosa Blessuren – Leichenflecken, die entstehen wenn kein Blut mehr fließt.
„Eines der drei Merkmale, die der Tod mit sich bringt“, erklärt Professor Wolfgang Keil. Starre und Fäulnis sind die anderen. Über den Rand seiner Brille blicken Keils blaugraue Augen auf den Toten. Seit 1995 ist Keil stellvertretender Leiter der Münchner Rechtsmedizin. Auf seine erste Leiche traf er 1974 an der Berliner Charité, kurz vor seinem 24. Geburtstag. Vergessen hat er sie nie. Eine verfaulte, völlig entstellte Frau. Selbstmord durch Gas. „Damals dachte ich, ich bin hier falsch.“ Wolfgang Keil musste raus, konnte den Geruch der Verwesung nicht ertragen. „Aber ich bin wieder zurück gegangen und bis heute in der Rechtsmedizin geblieben“, sagt der 60-Jährige. Der Geruch stört ihn nicht mehr. „Viele Menschen duften im Leben schlimmer als im Tod.“
Graue Regalreihen, graue Wände, kaltes Licht aus Neonröhren, das leise dröhnt. Montagmorgen, 7.45 Uhr, Dienstbesprechung in der Bibliothek der Rechtsmedizin. Zwischen dem „Farbatlas der Infektionskrankheiten“, „Schock – 2. Auflage“ und „Endstation Tod“ sitzen die Ärzte am grauen Tisch. Sachlich ist der Ton, wenn Rechtsmediziner berichten. Über den Tod der 90-Jährigen sprechen sie so emotionslos wie über den überfahrenen Fünfjährigen. Nach 15 Minuten ist alles gesagt. Keil und Kollegen gehen an die Arbeit, schreiben Gutachten, untersuchen lebende und tote Patienten. Wolfgang Keil tauscht den weißen Kittel gegen Anzug und Krawatte, fährt mit der U-Bahn zum Amtsgericht. Drei, vier Mal die Woche tritt er dort als Sachverständiger auf. Durch die Sicherheitskontrolle muss Keil nicht. „Unfreiwillig bin ich hier bekannt wie ein bunter Hund.“ Heute geht es um schwere Körperverletzung unter Alkoholeinfluss. Eine Stunde lang lauscht er den Worten von Richterin, Angeklagtem und Zeugen. Dann sein Urteil: Eingeschränkte Schuldfähigkeit nicht ausgeschlossen. Keil mustert den 29-jährigen Angeklagten: „Sie sind alkoholkrank, das sage ich mit aller Behutsamkeit.“ Um 10.15 wird der Sachverständige entlassen. Den Richterspruch wartet er nicht ab.
Zeit ist für Keil Mangelware. Es gibt immer Gutachten zu schreiben, Vorlesungen zu halten, Tote zu obduzieren. Markus T. ist die erste Leiche des Tages an Seziertisch Drei. Wolfgang Keil schnippelt heute nicht. Diese Woche hat er „obduktionsfrei“. Sein Kollege Randolph Penning inspiziert den Toten, notiert jeden blauen Fleck, jede Schramme, jeden Kratzer. Noch ist Markus T. ein Mensch. Sohn, Freund, Motorradfahrer. Nach der äußeren Leichenschau folgt der Schnitt vom Kinn zum Schamhaarbereich. Der Tote wird zu einer Sache. Zum Gegenstand der Rechtsmedizin. Durch Haut, Fettschicht, Muskelgewebe schneidet das zehn Zentimeter lange Messer. Blut fließt nicht. Die kleine Säge wartet auf ihren Einsatz, schafft sich leise summend ihren Weg zu Markus T.’s Gehirn.
Ein Mann gesellt sich zu den Ärzten. Grauer Vollbart, Brille, Karohemd. „Todesermittlung München“ stellt er sich vor. Er wartet darauf, dass die nächste Leiche auf dem Seziertisch Platz nimmt. Ein Toter, den die Kripo im Wald gefunden hat. „Der ist nicht mehr ganz frisch“, erzählt der Polizist. Gesicht und Hände der Leiche haben Waldtiere abgenagt. Nackte Körperteile müssten immer zuerst dran glauben. „Wir essen unser Fleisch ja auch nicht mit der Verpackung.“
Findet die Polizei eine Leiche, eilt Wolfgang Keil zum Tatort. Wie liegt der Tote, wie weit ist das Blut gespritzt? Noch am Fundort misst der Rechtsmediziner die Temperatur des Leichnams. „Der beste Indikator für die Todeszeit.“ Zwölf Stunden, zwölf Grad weniger, gelte bei Zimmertemperatur, ohne Luftzug. Aber eine Frau, die 48 Kilo wiegt, ist drei bis vier Mal schneller ausgekühlt als ein Hundert-Kilo-Mann. Die genaue Todeszeit kann man nie bestimmen. Manchmal nicht mal den Todestag. Das klappt nur in Krimiromanen und in Serien wie CSI.
„Es ist nicht schön, Tote aufzuschneiden“, sagt Keil. Spannend ja, aber nicht schön. Madenübersäte Leichen mag er am wenigsten. Die, die erst nach Wochen gefunden werden. Wenn die Nachbarn den Gestank bemerken. „Oder den dunklen Fleck an der Decke.“ Keil schneidet ein Stück Leberkäse ab, tunkt es in Senf. Wichtigste Regel im Beruf: Keine Emotionen zulassen. Der Mediziner faltet die Hände, mit den Daumen berührt er seine Lippen. „Die Seele muss stark sein, wenn man jeden Tag mit den Schattenseiten des Lebens zu tun hat.“ Mit Schlägertypen, Drogenabhängigen, misshandelten Kindern.
Sein Beruf hat Wolfgang Keil verändert. Mit seinem Leben geht er behutsamer um. Mit Verwandten und Freunden geht er ungern im Streit auseinander. Der Rechtsmediziner sucht das Schöne im Alltag: Opernabende, Tango tanzen, mit Freunden kochen. Letzteres Hobby hat er sich nach seiner Scheidung zugelegt. Den Frauen im Tanzkurs verschweigt er meist, mit wem er seine Tage verbringt. Zu groß ist der Ekel, wenn sie es erfahren. Zu oft muss er sich dann eine neue Tanzpartnerin suchen. Eine, die nicht an Leichen denkt, wenn sie in seinen Armen liegt.
Was würde Wolfgang Keil anders machen, könnte er noch mal von vorne beginnen? Wahrscheinlich würde er Allgemeinmediziner werden und den Lebenden helfen. „In den Medien heißt es immer, die Rechtsmedizin sei auf dem Vormarsch – Denkste!“ Vor allem die Kooperation des Instituts mit der Universität hält Keil für problematisch. Die Rechtsmedizin arbeite für Polizei, Staatsanwälte und Richter. An der Uni zähle das nicht, dort gehe es nur um die Wissenschaft. „Rechtsmedizinische Arbeit und Forschung stehen sich konträr gegenüber“, so Keil.
2200 Leichname schneiden Keil und seine Kollegen im Jahr auf. In München sterben im Schnitt 33 Menschen am Tag, davon werden etwa vier seziert. Dazu kommen noch vier bis sechs Leichen aus dem südbayerischen Raum – Passau, Ingolstadt, Bodensee. Wer obduziert wird, entscheidet der Staatsanwalt. Hat der Tote viel zu vererben? Ist er plötzlich gestorben? War die Balkontür offen? Auch Arbeitsunfälle werden fast immer untersucht, sagt der Professor. Hatte der Verunglückte einen Herzinfarkt, ist er am Gerüst ausgerutscht, war er betrunken? Wie ist das Ganze abgelaufen?
Drei Körperhöhlen öffnen die Rechtsmediziner bei einer Autopsie. Schädel, Brust und Bauch. Markus T. ist aufgeschnitten. Brustbein und Rippen sind entfernt, Herz und Hirn liegen auf einem silbernen Tablett über den Beinen des Toten. Scharlachrot schwimmt das Blut zwischen Magen, Leber und Nieren. Lila sind die Lungen von Markus T., Grün schlängelt sich sein Darm durch den Unterbauch. Bei frischen Leichen ist der Darm braun, erklärt Keil. Gelb ist die Fettschicht, etwa zwei Zentimeter dick. Von allen Organen entnehmen die Mediziner Gewebeproben. Danach nähen sie Markus T. wieder zu. Mit einem leisem „Plopp“ bohrt sich die geschwungene Nadel durch die Kopfhaut. In Markus T.’s Schädelhöhle steckt jetzt eine Papierzellstoffkugel. Das Gehirn legen die Mediziner in Markus T.’s Bauch. In seinen Schädel passt es nach der Obduktion nicht mehr. Nach einer Stunde verlässt Markus T. den Seziertisch. Der Tod des 39-Jährigen ist geklärt: Lungenentzündung. Sonst nichts Auffälliges. Die Obduktion hinterlässt kaum Spuren. Markus T.’s Gesicht gibt nicht preis, dass sein Schädel durchsägt, seine Haut abgezogen wurde. Seine Augen sind geschlossen. Geheimratsecken lassen seine Stirn breit erscheinen. Die Lippen sind ausgetrocknet und bleich. Markus T. scheint zu lächeln. So als wäre nichts geschehen.

Nicole Koller, Volontärin des "Main Echos" in Aschaffenburg, beschrieb den Alltag eines Rechtsmediziners - ganz ohne CSI-Image.