Gewinnerin Reportagepreis 2013

Attila von Unruh war mal ein erfolgreicher Unternehmer. Dann ging er pleite, wollte neu beginnen und erfuhr: Ein Neuanfang ist in Deutschland einfach nicht vorgesehen.

 

Der bürgerliche Tod

Von Alina Fichtner

„Das ganze Leben ist ein ewiges Wiederanfangen.“ (Hugo von Hofmannsthal)

Ruppichteroth/Köln – Attila von Unruh verliert sein Leben an einem warmen Tag im Mai.

Morgens fährt er in den Nachbarort, um ein Konto zu eröffnen. Das alte hat er verloren, wegen der Schulden. Nun möchte er neu anfangen, der Insolvenzantrag ist gestellt. Der Filialchef begrüßt ihn lächelnd und führt ihn in einen Nebenraum, auf dem Tisch liegen Papiere und ein Kugelschreiber. „Nur ein Konto, der Herr? Kein Fondssparplan? Aktien?“ Von Unruh schüttelt den Kopf. „Nein, danke. Ich bin insolvent.“ Da wird der Rücken des Bankers ganz steif, und das Lächeln fällt aus seinem Gesicht. „Dann kann ich hier nichts für Sie tun. Verlassen Sie bitte unsere Filiale.“ 

Von Unruh tritt durch die gläserne Tür nach draußen, die Gesellschaft liegt hinter ihm. Er gehört nicht mehr dazu. Kein Bankkonto, das heißt auch: kein Handyvertrag, kein Job. Kein Leben. „Es war mein bürgerlicher Tod“, sagt von Unruh, 50, und unterbricht seine Erzählung. Nur ungern denkt er zurück an den Tag vor sechs Jahren, an dem er sich fragte: „Was bin ich jetzt noch wert, wenn mir selbst ein Konto verweigert wird – obwohl doch sonst alle eins besitzen?“

Attila von Unruhs Geschichte ist die eines Unternehmers, der Pleite ging und neu beginnen wollte. Den man aber nicht neu beginnen ließ. Eine zweite Chance? Ist in Deutschland nicht vorgesehen. Scheitern wird bestraft. Nach den Folgen fragt niemand.

Von Unruh sitzt auf dem viel zu kleinen Stuhl eines Büros, vor dem Fenster die sanften Hügel des Bergischen Landes. Die zwanzig Quadratmeter unter dem Dach gehören seiner Frau. Telefoniert sie, guckt er aus dem Fenster. Kommen ihre Kunden, muss er raus. Er greift nach vier zusammengeklebten Fotos, auf denen Hunderte Jugendliche ekstatisch zwischen Marlboro-Sonnenschirmen tanzen. Solche Events organisierte er früher, vor der Pleite. Damals besaß er ein geräumiges Büro in Köln. Restaurantbesuche, mal ein neuer Wintermantel für seine Frau: „Ich verdiente immer mehr als genug Geld.“

„Was bin ich noch wert, wenn mir selbst ein Konto verweigert wird?“

Mit 40 hatte von Unruh genug von Jugend und Ekstase, er verkaufte seine Firma. Doch der Kaufvertrag war nicht wasserdicht. Als der neue Eigentümer zwei Jahre später Insolvenz anmeldete, konnten die Gläubiger ihr Geld vom Altbesitzer fordern, so erzählt von Unruh es. „Plötzlich hatte ich 150 000 Euro Schulden.“ Wie viele Unternehmer haftete er mit seinem privaten Vermögen. Verkaufte sein Auto, die Lebensversicherung. Gab das Büro auf. Es reichte nicht. 2005: die Privatinsolvenz.

Wenn von Unruh etwas berührt, wechselt er vom „ich“ zum „man“ und sagt Sätze wie: „Natürlich stellt man sich die Schuldfrage.“ Sein Blick ist freundlich, aber distanziert, das Gesicht vornehm geschnitten, die Nase leicht geneigt. „Ich dachte immer, Pleite geht man nur, wenn man nicht mit Geld umgehen kann.“

Im vergangenen Jahr meldeten in Deutschland knapp 15 000 Unternehmen Insolvenz an, bei Privatleuten waren es mehr als 100 000. Für sie folgt auf eine Pleite die sogenannte Wohlverhaltensphase: Sechs Jahre, in denen ein Treuhänder Einnahmen und Ausgaben kontrolliert, das Gehalt bis zur Pfändungsgrenze einzieht und es an die Gläubiger verteilt. Sechs Jahre am Existenzminimum, heißt das für Pleitiers, durchschnittlich leben sie von 1000 Euro im Monat. Sind danach noch Schulden übrig, werden sie erlassen – vorausgesetzt, die Auflagen wurden erfüllt.

Von Unruhs Insolvenzverwalter zählte auf: Erstens, Sie müssen alles tun, um möglichst viel Geld zu verdienen. Zweitens, die Selbständigkeit, die Sie anstreben, wird Ihnen untersagt, aus Haftungsgründen. Nach drei Minuten war das Gespräch vorbei, von Unruh verstand nicht: War das nicht paradox? Willkürlich? Und, ja, auch das: eine Entmündigung?

Klaus Hofmeister, Leiter der Schuldnerberater in München, kennt viele solcher Fälle. „Die meisten Insolventen sind hochmotiviert, zu arbeiten. Aber es wird ihnen oft schwer gemacht“, sagt er. „Ob jemand ein Konto bekommt, ist ein Lotteriespiel – obwohl die Banken sich verpflichtet haben, jedem eins zu gewähren.“ Es ist Freitag, 19 Uhr, Hofmeister noch immer im Büro. Er trägt Karojackett, Brille und hat den ernsthaften Blick eines Mannes, an dem schon viele Schicksale vorbeigezogen sind.

Schicksale wie das von Eberhard Morawa, 52, ehemals Besitzer eines Naturkostladens in Worms. 1998: die Insolvenz. Plötzlich begannen die Menschen auf der Straße zu tuscheln über ihn, der sich jahrelang in der Lokalpolitik, dem Umweltschutzverband, der Kirche engagiert hatte. Insolvente seien Gauner, bekam er zu hören.

War das nicht alles paradox? Willkürlich? Und ja, auch das: eine Entmündigung.

„Ich hielt das nicht aus, wollte wegziehen“, sagt Morawa. Aber er fand nirgends eine Wohnung. Sobald die Vermieter hörten, dass er kein Konto, aber einen Schufa-Eintrag habe, schlugen sie die Türen zu. Er schlief abwechselnd bei verschiedenen Bekannten. Auf dem Boden, mit Luftmatratze, im Schlafsack. Sein Chef – er arbeitete jetzt als Unternehmensberater – durfte nicht wissen, dass er keinen festen Wohnsitz hatte, nur die Sekretärin weihte er ein. Sie versteckte seinen Anzug im Büroschrank.

Morgens kam Morawa als Erster, um umgezogen zu sein, bevor der Chef eintraf. Er hielt das Versteckspiel ein paar Monate durch, dann gab er den Job auf. Seine Frau? Hatte ihn da längst verlassen, zu viele Probleme. „Immer wenn ich das Gefühl hatte, Boden unter den Füßen zu gewinnen, wurde er mir wieder weggezogen“ sagt Morawa. Keine Wohnung, kein Job, keine Perspektive – wie ihm geht es vielen Insolventen. Kein Wunder, dass einigen ihr Leben irgendwann ganz entgleitet.

Von Unruh weiß, dass er Glück hat. Seine Frau hielt zu ihm, sie leben in ihrem Fachwerkhäuschen im Bergischen Land, das Dachzimmer ist ihr gemeinsames Büro. Aber das Leben als Unternehmer wieder aufzunehmen, das von seiner Persönlichkeit kaum loszulösen sei, wie er sagt: „Nächte durcharbeiten, eigene Ideen umsetzen“ – das ist Insolventen unmöglich. Zwar erlaubte ihm der Treuhänder doch noch, sich selbständig zu machen. Aber einen Kredit darf er nicht aufnehmen. Investieren, groß denken? Ausgeschlossen. Zwar fand er eine Bank, die ihm ein Konto gewährte. Aber überzöge er ein wenig, es würde sofort geschlossen. „Eine Firma aufzubauen ist so nicht denkbar“, sagt Experte Hofmeister.

Glaubt man dem deutschen Volksmund, ist das nur gerecht; schlechtem Geld bloß kein gutes hinterherwerfen, heißt es da, denn wer einmal scheitert, der scheitert immer. „Aber das ist falsch“, sagt Peter Kranzusch vom Institut für Mittelstandsforschung in Bonn. In einer Studie fand er heraus, dass die Unternehmensgründung eines einmal Gescheiterten mindestens so gute Erfolgsaussichten hat wie die eines beliebigen anderen.

In den USA und in Großbritannien dauert die Insolvenz nur ein Jahr. Hierzulande sechs.

Wie ein Land mit dem Scheitern umgeht, ist auch eine kulturelle Frage. In den USA gilt ein Firmenpleitier als einer der ut bewiesen hat und um eine Berufserfahrung reicher ist. Auch in Großbritannien dauert die Insolvenz nur ein Jahr – statt sechs, wie hierzulande. Konten und Kreditkarten? Alles kein Problem, Insolvente sollen möglichst schnell zurück ins Leben finden. „Unsere Gesellschaft bestraft sich selbst, weil sie Menschen für sechs Jahre, also eine halbe Ewigkeit, aus dem Wirtschaftskreislauf ausschließt“, sagt Kranzusch. Weil ihr Steuern und Sozialbeiträge entgingen. Und weil diese Endgültigkeit des Scheiterns bei vielen die Angst schüre, überhaupt ein Unternehmen zu gründen. Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger hat das Problem erkannt und plant eine Reform: Wer ein Viertel seiner Schulden abbezahlt hat, soll nur drei Jahre entschulden müssen.

Fragt man Attila von Unruh, wo er heute stünde, wenn er nach drei Jahren hätte neu beginnen dürfen, sagt er: „Ich würde wohl ein Beratungsunternehmen mit mehreren Angestellten führen.“ Nach der Insolvenz habe er sich wie ein ausgebremster Schnellzug gefühlt. „Ich wäre gerne mit Volldampf weitergefahren.“

Irgendwie fuhr er dann doch mit Volldampf weiter, wenn auch anders als früher. Unbezahlt. So wurde er deutschlandweit zum gefragten Experten, er spricht auf Konferenzen und Tagungen, gewinnt Preise; auf seinem Schreibtisch liegt ein Foto: Hannelore Kraft, Ministerpräsidentin Nordrhein-Westfalens, schüttelt ihm auf einer Bühne die Hand und zeichnet sein Engagement aus.

Wie kam es zum Aufstieg des Abgestiegenen? Nach zwei Jahren ertrug von Unruh die Isolation nicht mehr. Alte Geschäftspartner und Freunde mied er. Zu groß war das Stigma des Scheiterns, zu gering das Selbstbewusstsein. Seiner Frau wurde das Dauerthema Insolvenz zu viel. Also gründete von Unruh in Köln die erste Selbsthilfegruppe für Überschuldete in Deutschland, die „Anonymen Insolvenzler“. Der Zulauf war enorm. Täglich erreichten von Unruh Hunderte Mails und Anrufe. Mittlerweile gibt es zehn Gruppen in Deutschland und Österreich, weitere sind in Aufbau.

Einmal im Monat fährt er nach Köln, um das Treffen der Anonymen Insolvenzler zu moderieren. Tor 28, ein Veranstaltungszentrum, einige Teilnehmer warten vor Raum Lotus,  der noch von einem Yoga-Kurs besetzt ist. Von Unruh schreitet zu einer Frau mit eckigen Brillengläsern, umarmt sie. „Wie geht es Dir?“ Sie sehen sich in die Augen, innig, wie Komplizen. Wenig später sitzen die beiden mit acht Männern und vier Frauen in einem Stuhlkreis, auf einem Flipchart steht „Anonyme Insolvenzler“, darunter akkurat ausgemalte Pfeile mit den Regeln des Treffens: Vertraulichkeit, Anonymität, keine Bewertungen. In Ich-Form reden. Und: Nur Betroffene haben Zugang. Die Insolventen schließen den Rest der Welt aus, genauso, wie die Welt sonst sie ausschließt.

Heute redet die Frau mit den eckigen Brillengläsern über Angst. „Die Insolvenz legt einen düsteren Schleier über alle Lebensbereiche, Job, Beziehung, Hobbys“, sagt sie, ein Mann im blauen Hemd bläst die Backen auf. „Aber ein Teil des Lebens muss ohne sie stattfinden können. Zum Kraft tanken.“ Der Mann vergräbt sein Gesicht in den Händen. „Vielleicht beim Tango tanzen?“, fragt sie zart, und sieht ihn an. Er blickt auf und erwidert überrascht: „Tango Argentino? Das habe ich früher auch getanzt.“

Die Frau legt Plastikplättchen zu einem Viereck auf den Boden, darauf steht „Kompetenz“ und „Einfachheit“. „Stellt Euch darin einen Raum vor, der heil ist.“ Vierzehn Menschen starren auf den blauen Teppich. Einer schüttelt den Kopf, ein wenig verärgert: „Einfachheit? Wo soll ich die finden? Nie weiß ich, was morgen im Briefkasten liegt.“ Und Kompetenz? Den Glauben an sich, den habe er längst verloren.

Eberhard Morawa hat ihn langsam zurück gewonnen, drei Jahre lang kam er zu jedem Treffen. Heute arbeitet er wieder als Berater.

Der Himmel hinter dem schmalen Kippfenster färbt sich rot, die Teilnehmer verlassen Tor 28 mit der Aufgabe, ihre Aufmerksamkeit manchmal auf etwas anderes zu lenken als die Insolvenz. Die Schüssel, in die jeder, der kann, ein paar Euro für die Raummiete legen sollte, ist leer geblieben.

Aber Attila von Unruh hat ohnehin eine Idee, wie sich mit der Gruppe Geld verdienen ließe, um nicht mehr auf Spenden angewiesen zu sein: Er will die Gescheiterten zu Beratern ausbilden. Sie sollen Firmen helfen, Insolvenzen zu vermeiden oder einen Neustart zu schaffen. Denn wer kennt sich besser aus mit all den Fallstricken und Kniffen als Betroffene? Eine wegweisende Idee, findet Ashoka – diese internationale Organisation, von amerikanischen McKinsey-Beratern gegründet, gilt als elitärer Zusammenschluss von Unternehmern, deren Ziel gesellschaftliche Veränderung ist. Von Unruh habe ein drängendes Problem in Deutschland erkannt und löse es jetzt mit einer unternehmerischen Vision, heißt es bei Ashoka.

Nachdem von Unruh, der Gescheiterte, kein Unternehmer mehr sein durfte, wird er nun in den Kreis der Sozialunternehmer aufgenommen.

Seine sechsjährige Wohlverhaltensphase hat er hinter sich. Worauf freut er sich am meisten? „Finanziell nicht mehr abhängig zu sein“, sagt er. Kürzlich entdeckte seine Frau Löcher in den Stiefeln. „Nicht weiter schlimm“, sagte von Unruh, „die tun es noch einen Winter.“ Sie war es, die auf neue bestand und ihm das nötige Geld dafür gab.

Wenn Momente wie dieser aus seinem Alltag verschwinden, dann gehört ihm das Leben wieder, das er verlor, an einem warmen Tag im Mai.

 

Alina Fichter (31) hat Volkswirtschaftslehre in Köln und Paris studiert – ursprünglich, um Entwicklungshelferin zu werden. Ein zweijähriger Aufenthalt in einem der ärmsten Länder Lateinamerikas (Honduras) hatte diesen Wunsch geweckt. Doch als Alina in Köln anfing, für die taz zu schreiben und Radiobeiträge für die Deutsche Welle zu basteln, wurde ihr schnell klar, worin ihre wahre berufliche Leidenschaft liegt: Im neugierigen (Nach-)fragen und im gewissenhaften Berichten für Rundfunk und Print. Gerne über Länder der dritten Welt oder die Schlüsselfragen der Volkswirtschaft (Sozialsysteme, Arbeitslosigkeit, gerade: Die Börse!), aber ebenso über Lokales und vieles mehr.