Gewinnerin des Featurepreises 2012
Fast eine halbe Millionen Menschen in Deutschland sind glücksspielsüchtig. Die meisten von ihnen kommen nicht von Spielautomaten los. Ab 2012 könnte das florierende Geschäft der Automatenbetreiber ein Ende nehmen.
Das automatische Unglück
von Parissa Kerkhoff
„Das ist eine scheiß Abzocke. Der Chef von dem Laden hier sollte in den Knast“, sagt Adrian, der vor einem Spielautomaten sitzt, einen rotierenden Früchtesalat beobachtet und unentwegt auf die Taste „Weiter“ drückt. Gestern um 17 Uhr hat er begonnen, dem Jackpot hinterherzujagen. Hier in der Spielothek Merkur am Karlsplatz in München. Mittlerweile ist es zehn Uhr morgens.
Er hat die Nacht durchgespielt, nicht geschlafen, nichts gegessen. Laut ihren Öffnungszeiten ist die Spielhalle eine Stunde am Tag geschlossen, und zwar von fünf bis sechs Uhr morgens. „Nein, wir durften alle bleiben. Das war kein Problem“, sagt Adrian schmunzelnd. Rund 1.500 Euro hat er seit gestern in die Spielautomaten gesteckt.
Woher er das Geld nimmt, will er nicht erklären. Seine Hose ist breit, dunkelgrün und hat weiße Staubflecken. Gärtner sei er. Und eigentlich wollte er schon längst aufgehört haben, weil er schon längst bei der Arbeit sein müsste.
Außer Kontrolle geraten
Es gibt in Deutschland rund 400.000 Menschen, die wie Adrian exzessiv spielen. Dies ermittelte die Landesstelle Glücksspielsucht in Bayern. Sie gelten als „problematische“ bis „pathologische“ Spieler, weil sie für das Glücksspiel ihre täglichen Pflichten wie die Arbeit vernachlässigen und unkontrolliert spielen.
Rund 80 Prozent dieser Glücksspielsüchtigen sind von Geldspielautomaten abhängig. Betroffen sind nicht nur Männer, sondern auch Frauen. Rund 20 Prozent der Spielhallenbesucher sind weiblich. Die bunten Geräte haben das höchste Suchtpotenzial und ihr Angebot weitet sich stetig aus. Die Zahl der privaten Spielhallen ist in Deutschland zwischen 2006 und 2010 um 5,9 Prozent auf 8.340 angestiegen. Hinzu kommen unzählige Automaten, die in Gaststätten stehen. Viele von ihnen sind illegal.
Die Bundesländer wollen jetzt gegen die Glückspielsucht vorgehen und knöpfen sich die Spielautomaten vor. Sie einigen sich in einem Glücksspielstaatsvertrag auf gemeinsame Gesetze für den Markt. Obwohl die Suchtprävention offiziell das oberste Ziel des Vertrags ist, kümmert er sich bislang nicht um das Spielautomatengeschäft. Der Vertrag läuft Ende des Jahres aus und wird derzeit zwischen den Bundesländern neu ausgehandelt.
Wann der Spaß aufhört
Demnach sollen Spielhallen ihre Konzessionen teilweise verlieren, sodass sie ihr Angebot verkleinern müssen. Auch Neueröffnungen würden erschwert. Zudem sollen alle öffentlichen Glücksspielveranstalter ihre Kunden besser aufklären. Sie sollen verständlich und transparent erklären, wie das Spiel funktioniert, wie viel zu gewinnen und wie viel zu verlieren ist. Und vor allem: Wann der Spaß aufhört und jemand süchtig ist.
Dass es die Spielautomaten auf die Tagesordnung der Verhandlung geschafft haben, liegt nicht schlicht nur an den hohen Zahlen der Automatensüchtigen. Erst ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs von 2010 gab den Ausschlag. Ihm nach sei der Glücksspielstaatsvertrag nicht gerechtfertigt, wenn er nicht auch Regeln für Spielautomaten aufstellt. Solange für die Automaten liberalere Regelungen als etwa für Sportwetten und Online-Glücksspiel gelten, sei die Suchtprävention nicht konsequent umgesetzt.
Für die Automatenbranche geht es um viel Geld. Glücksspiele brachten 2009 einen Umsatz von rund 24 Milliarden Euro in Deutschland ein, fast zehn Milliarden Euro davon kamen aus den Geldkassetten von Spielautomaten.
Aus Sicht der Branche laufen die Regulierungspläne auch gar nicht primär auf die Suchtprävention hinaus. „Der Staat wittert Konkurrenz für sein Glücksspiel“, schreibt der Verband der Deutschen Automatenwirtschaft in einer Werbebroschüre. Er verweist damit auf die staatlichen Spielbanken, die bereits einer weniger strengen Kontrolle unterlägen. Der Verband nimmt die privaten Spielhallen in Schutz: Die wenigsten Besucher seinen suchtkrank, die Gewinn- und Verlustmöglichkeiten gering. Das Personal werde darauf geschult, Suchtkranke zu erkennen. Mit Sichtblenden zwischen den Automaten sorgten sie zudem dafür, dass niemand mehr als ein Gerät gleichzeitig bedient.
Pfirsich – Pfirsich – Pfirsich
Für Adrian ist es keine Schwierigkeit, umherzulaufen und fünf Automaten gleichzeitig zu bedienen. Pfirsich – Pfirsich – Pfirsich. Einer seiner Automaten dreht plötzlich durch. Neonlichter in rosa, grün und blau bestrahlen sein Gesicht, Rockmusik ertönt aus dem Gehäuse. Er hat es geschafft. Er hat den Jackpot des „Fruitinators“ endlich geknackt. Langsam dreht sich Adrian herum und sucht mit einem Siegerlächeln nach den Blicken der anderen vier Spieler im Raum. 451 Euro hat er gewonnen. Niemand schaut hin.
Er drückt auf den roten Knopf „Auszahlen“. Der Fruitinator schiebt das Geld in glatten Fünfzigeuroscheinen aus einem Schlitz. Ein einzelner Euro springt einsam in die Münzschale. Es ist 10:30 Uhr. Zeit für eine Zigarettenpause.
Adrian ist 28 Jahre alt. Er kommt aus dem Kosovo. Er war 15 Jahre alt, als der Kosovo-Konflikt und das Morden auch vor seiner Haustür tobte. „Sie ermordeten meinen Großvater. Und zwei meiner Onkel“, erzählt er. „Ja, schlimm war das. Sechs meiner Verwandten wurden umgebracht. Sie lebten alle bei uns in der Nachbarschaft. Ja.“ Er blickt auf den Boden, als wenn er in die Ferne sieht.
In den staatlichen Spielbanken sei es viel besser, sagt er dann mit klarem Blick. Da könne man nicht wie im Merkur so schnell so viel Geld verlieren. Er kommt dennoch hierher. „Ist doch eigentlich egal“, sagt er. „Es geht nicht ums Geld. Kein Plan, worum es geht. Vielleicht ums Ablenken. Vielleicht bin ich krank.“ Adrian tippt sich mit dem rechten Zeigefinger an die Schläfe.
Das gleiche Muster wie bei Alkoholikern
Tatsächlich wollen sich die meisten Süchtigen mit dem Spielautomaten vor allem ablenken, erklärt die Sozialpädagogin Astrid Heinze. Sie berät beim Suchthilfeverband Blaues Kreuz in München Spielsüchtige. Die meisten, die zu ihr kommen, sind spielautomatensüchtig. „Sie haben emotionale Probleme oder sogar Depressionen und wissen nicht, wie sie damit umgehen sollen. Sie lenken sich am Automaten ab und versuchen die negativen Gefühle mit Momenten des Glücks, des Gewinnens, auszugleichen.“ Es seien die gleichen Muster wie bei Alkoholikern. Auch die Beschaffungskriminalität sei unter Glücksspielsüchtigen nicht geringer als bei Drogensüchtigen.
Heinze glaubt, dass es mehr Süchtige geben wird, wenn sich das private Spielhallenangebot weiter ausbreitet. Die staatlichen Spielbanken seien vergleichsweise weniger problematisch, sie seien meist zu weit von den Innenstädten abgelegen. Verführerischer seien hingegen die Spielhallen an der nächsten Straßenecke.
Es sei richtig, das Spielangebot einzudämmen und das Beratungsangebot dafür auszubauen. Im Durchschnitt spielen die Betroffenen schließlich sechseinhalb Jahre exzessiv, bis sie Hilfe in Anspruch nehmen. „Meist haben sie sich dann bereits in den Ruin gespielt und soziale Kontakte verloren“, erklärt Heinze. Viele sind an diesem Punkt auch hochgradig selbstmordgefährdet.
Adrian drückt die Zigarette aus. Er geht zurück zu den Automaten, zwischen denen die Suchtberatungsbroschüren der Spielothek klemmen. Blassblau mit dem roten Titel „Spielregeln“. Er bemerkt sie nicht, als er seine gewonnenen Scheine an vier Automaten verteilt. Einen Fünfzigeuroschein hält er jetzt noch in der Hand. Seit fast 18 Stunden ist er auf der Suche nach dem automatischen Glück. Wann er aufhören will? „Eigentlich jeden Tag“, sagt er und steckt seinen letzten Schein in den Fruitinator.

Parissa Kerkhoff (25), studierte Germanistin, ist seit 2009 beim Juve Verlag in Köln zuständig für die Themengebiete Umwelt- und Planungsrecht sowie EU-Beihilferecht. Foto: Andreas Anhalt